Kunst erfahren und gestalten

Die 12. Klasse der Heilbronner Waldorfschule in der Toskana

Die Kunst spielt in der Waldorfschule bekanntlich eine herausragende Rolle. Nicht nur wird den künstlerisch- handwerklichen und musischen Fächern eine den anderen Fächern gleichwertige Stellung im Lehrplan eingeräumt, das Künstlerische wird auch als besonderer Wesenszug und integrierter Bestandteil der „Erziehungskunst“ selbst gepflegt.

Es versteht sich daher, dass in der 12. Klasse, die als Abschlussklasse den jungen Erwachsenen einen Überblick über alle bisherigen Wissens-, Erfahrungs- und Tätigkeitsbereiche ermöglichen sollte, auch die Kunst einen entsprechenden Stellenwert erhält. Dies geschieht zum einen durch das Klassenspiel, zum andern durch die abschließende Studienfahrt, die als Kunstpraktikum angelegt ist. Seit Jahrzehnten fahren unsere Schülerinnen und Schüler nach Italien, um sich für etwa zwei Wochen bildhauerisch dem Marmor zu widmen. In einem Gebirgsfluss bei Carrara sucht sich jeder aus den reichhaltigen Abfällen der Steinbrüche „seinen“ Stein aus, den er dann in den folgenden zwölf Tagen bearbeitet.

Die Auseinandersetzung mit dem Stein,

insbesondere mit dem herrlichen Marmor, führt zu ganz individuellen Erfahrungen, die der schnelllebigen Oberflächlichkeit unserer Konsum- und Medienwelt etwas entgegensetzen, etwas zutiefst Menschliches. Jeder bearbeitete Stein ist einzigartig, ganz gleich ob mehr oder weniger „fertig“ oder „gelungen“ ist er Bild und Offenbarung persönlicher Willensbekundung. Zwölf Tage im Dialog mit dem Stein tastet jeder nach außen und nach innen seine Grenzen ab. Auch die einfachste Form entsteht nicht auf Knopfdruck, sondern wird der Materie in stetiger Kleinarbeit mit Hammer und Meißel abgerungen. Einen zweiten Zugang zum Wesen des Künstlerischen bietet die Betrachtung großer Kunstwerke im Rahmen eines kunstgeschichtlichen Seminars. Die Kunstbetrachtung bildet eine Brücke zwischen der gedanklichen Reflexion im Erkenntnisprozess und der künstlerischen Gestaltung.

Um ein Kunstwerk zu „verstehen“, bedarf es einer Gedankentätigkeit, die sich in die Gestaltbildung hineinschmiegt und die schöpferischen Bewegungen des Künstlers mitvollzieht, eines „gestaltenden Denkens“. (gekürzte Fassung, Originalfassung unter http:// waldorfcampus-hn.de/aktuelles/neuigkeiten/ details/ein-kroenender-abschluss. html ) Im Wechsel zwischen Steinarbeit, seminaristischer Reflexion und Kunstbetrachtung vor Ort, am konkreten Original, tauchen die Jugendlichen so tief und umfassend in die Erfahrung des Künstlerischen ein wie nie zuvor. Und wo sollte sich dies leichter verwirklichen lassen als in Italien, insbesondere den norditalienischen Städten. Die wunderbare Aufgabe der Kunstbeobachtung ist hier aber zugleich eine enorme Herausforderung für Lehrer und Schüler. Allein das mehrmalige Zählen der 44 Schülerinnen und Schüler war eine nervenaufreibende Aufgabe, für die die Pädagogen aber immer wieder entschädigt wurden, wenn sie erleben durften, wie vielfach reges Interesse und tiefbewegtes Staunen vor den Kunstwerken geweckt wurden.

 

Ein Beitrag von Heinz Mosmann

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