Wenn wir zum ersten Mal Eltern werden, dann ist unser Blick auf das Kind meist geprägt von Unsicherheit, Faszination, Staunen, Sorge, großer Neugier und überwältigenden Gefühlen der Freude und Liebe. Alles ist anders und nicht mehr so wie zuvor. So beginnen wir unsere Routinen zu suchen und anzulegen, uns aufeinander einzuschwingen.
Wir versuchen herauszufinden, was das Kind braucht, wieso es weint, warum es nicht einschlafen kann. Wie es sein Köpfchen hält, wann es sich auf den Bauch dreht, in den Vierfüßler kommt, das erste Zähnchen und so weiter. Das neugierige Beobachten, das Erkennen von Bedürfnissen, das Forschen und Lernen von-, mit- und aneinander. Wir lernen was den anderen begeistert, betrübt und dergleichen.
Bedauerlicherweise ändert sich der wohlwollende, interessierte Blick aufs Kind mehr und mehr. Sobald das kleine mobil wird, sich fortbewegt, aufsteht und sich die Welt zu eigen machen möchte, beginnen wir Eltern zu regulieren, zu verbieten, zu beschützen, zu formen. Aus „voneinander lernen“ wird ein Belehren. Aus Beziehung wird also Erziehung! Es scheint, als müssen wir nun tätig werden, damit das was Gescheites draus wird. Was wir dabei nicht vergessen sollten, ist, dass das Kind schon etwas ist. Nämlich ein eigenes Individuum, eine eigene Person, mit eigenem Empfinden, viel Kompetenz für seine persönlichen Belange.
Das Kind ist zwar klein und unerfahren, jedoch nicht unfähig oder dumm. Doch das Verhalten der Eltern macht es dem Kind nicht leicht sich zu entfalten und die Welt zu erobern. Oft kann ein Kind schon „Nein“ sagen, bevor es „Mama“ oder „Papa“ sagt. Die Folgen für die Entwicklung sind nachhaltig schwächend, geschwächt wird vor allem das Selbstwertgefühl des Kindes! Bei kleinen Kindern, zwischen 0 und 3, leidet das Empfindungssystem, denn sie befinden sich in der Findungs- und Erprobungsphase. Es stellt sich die Frage, wie ich mein Kind bei der Entwicklung seines eigenen Empfindungssystems und in der Folge seiner eigenen Werte sinnvoll unterstützen kann.
In erster Linie benötigt es Menschen in seinem Umfeld, die es wahrnehmen, ernstnehmen und die interessiert sind, dieses kleine Wesen kennenzulernen. Die ihm die Chance geben, Erfahrungen selbst zu machen, Gefühle selber zu erleben und zwar die guten wie die schlechten und ihm in alledem beistehen, ohne ihm dauernd zu sagen, wie es „richtig“ wäre. Heute wird in der Erziehung oft geglaubt, Eltern müssten unendlich viel für ihr Kind tun, alles wissen und für alles eine Antwort/eine Erklärung haben. Das ist auf Dauer ziemlich anstrengend. Sehen wir uns das einmal an einem Beispiel an:
Ein 1,5-jähriges Kind stürzt auf sein Knie, bleibt am Boden sitzen und weint. Wie ist die häufigste Reaktion der Erwachsenen? Etwa so: „ Ach, da ist doch gar nichts passiert? Komm, steh wieder auf! Tut das so weh? Lass mal sehen, komm ich puste, so jetzt tut es gar nicht mehr weh!“ Oder so ähnlich! Die Mutter/der Vater versucht in großer Fürsorge alles, um das Geschehene ungeschehen zu machen bzw. schnell wieder ein Wohlfühlen herzustellen. Das sind sicher edle Beweggründe und wer mag schon gern die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen mit einem schreienden Kind. Doch geht es im Leben wirklich darum die Realität auszublenden und ist es tatsächlich möglich sich immer wohlzufühlen? Spannend ist, was im und mit dem Kind passiert. Also: Das Kind fällt und erschreckt sich mindestens und evtl. tut ihm etwas weh, in jedem Fall ist es verunsichert und muss weinen.
Durch die prompte Reaktion des Gegenübers, bleibt kaum Zeit in sich zu spüren, weil gleich auch noch die Interpretation des Geschehenen mitgeliefert wird. Zwangsläufig wird das Kind seiner „Lebensversicherung“ Glauben schenken, denn es ist ja noch völlig abhängig. Da es am Vorbild lernt, wird es der Reaktion des Elternteils mehr Glauben schenken, als seiner eigenen Wahrnehmung. Die ja häufig gar nicht zum „Einsatz“ kommt, weil dem Kind bereits gesagt wurde, dass „nichts passiert sei und das es nicht weh tut“? Die Folge ist, dass das Kind die Wahrnehmung seiner Realität abspalten wird und dem was Mama oder Papa sagen, „wie es ist“, Glauben schenken und übernehmen. Das führt zu einem permanenten Zweifel, denn es fühlt sich ja de facto anders an und dass „nichts passiert ist“ stimmt so auch nicht. Das Kind ist gestürzt. Und wer kann schon den Schmerz oder Schreck eines anderen spüren? Wenn wir also zurück zum Anfang dieses Textes gehen und den neugierigen Blick auf unser Kind als eigenes Wesen, mit einem eigenen Empfindungssystem, als möglich erachten, dann werden wir unseren Kindern nicht mehr erzählen, dass nichts passiert sei. Sondern interessiert abwarten und evtl. feststellen, dass wir uns erschreckt haben und ein bisschen mitleiden. Bestenfalls werden wir bestätigen, dass es gerade gestürzt ist und fragen, ob es sich erschreckt hat oder ob etwas weh tut.
Ob es dann im Knie oder in der Seele schmerzt, wird das Kind in diesem Alter nicht zu unterscheiden vermögen. Wohltuend und entwicklungsfördernd wird die Aufmerksamkeit und die Anerkennung dessen „was geschehen ist“ in jedem Fall sein. Wahrscheinlich werden die Tränen auch ganz schnell getrocknet sein, wenn man nicht um die Aufmerksamkeit des Erwachsenen kämpfen oder in diesem Fall schreien muss. Denn beide beziehen sich aufeinander, sind in Kontakt und das stärkt das Selbstwertgefühl, von dem wir alle gar nicht genug haben können.
Ein Beitrag von Susanne Sonnleitner.
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