Die besondere Mutter

 

 

Ich stelle mir vor, wie Gott über die Erde schwebt und sich die Werkzeuge seiner Art-Erhaltung mit größter Sorgfalt und Überlegung aussucht. Er beobachtet sehr genau und diktiert dann seinen Engeln ins riesige Hauptbuch: „Müller, Lisa: Einen Sohn; Schutzengel: Matthias. Meier, Lena: Einen Tochter; Schutzengel: Cecilie. Schmitt, Laura: Zwillinge; Schutzengel? Gebt Ihr Gerhard, der ist gewohnt, dass geflucht wird!“ Schließlich nennt Gott einen Namen und sagt: „IHR gebe ich ein behindertes Kind.“ Der Engel sagt neugierig: „Warum gerade ihr, o Herr? Sie ist doch so glücklich?“ „Eben deswegen!“, sagt Gott lächelnd. „Kann ich einem behinderten Kind eine Mutter geben, die das Lachen nicht kennt? Das wäre grausam.“ „Aber hat sie denn die Geduld?“ fragt der Engel. „Ich will nicht, dass sie zuviel Geduld hat, sonst ertrinkt sie in einem Meer von Selbstmitleid und Verzweiflung. Wenn der anfängliche Schock und Zorn erst abgeklungen sind, wird sie es tadellos schaffen. Ich habe sie heute beobachtet. Sie hat den Sinn für Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die bei Müttern so selten und so nötig sind. Verstehst Du, das Kind, das ich ihr schenken werde, wird in seiner eigenen Welt leben. Und sie muss es dazu bringen, in der ihren zu leben. Das wird nicht leicht werden.“ „Aber, Herr – soviel ich weiß, glaubt sie nicht einmal an Dich…“ Gott lächelt. „Das macht gar nichts, das bringe ich schon in Ordnung. Nein, sie ist hervorragend geeignet. Sie hat genügend Egoismus.“ Der Engel ringt nach Luft. „Egoismus? Ist das denn eine Tugend?!“ Gott nickt. „Wenn sie sich nicht gelegentlich von dem Kind trennen kann, wird sie das alles nicht überstehen. Diese Frau ist es, die ich mit einem nicht ganz vollkommenen Kind beschenken werde. Sie weiß es zwar noch nicht, aber sie ist zu beneiden. Nie wird sie ein gesprochenes Wort als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Nie einen Schritt als etwas Alltägliches. Wenn ihr Kind zum ersten Mal „Mama“ sagt, wird ihr klar sein, dass sie ein Wunder erlebt. Wenn sie ihrem blinden Kind einen Baum, einen Sonnenuntergang schildert, wird sie ihn so sehen, wie nur wenige Menschen meine Schöpfung jemals sehen. Ich werde ihr erlauben, alles deutlich zu erkennen, was auch ich erkenne – Unwissenheit, Grausamkeit, Vorurteile – und ich werde ihr erlauben, sich darüber zu erheben. Sie wird niemals alleine sein. Ich werde bei ihr sein. Jeden Tag ihres Lebens, jede einzelne Minute, weil sie meine Arbeit ebenso sicher tut, als sei sie neben mir. „Und was bekommt sie für einen Schutzengel?“ fragt der Engel mit gezückter Feder.

Da lächelt Gott: „Ein Spiegel wird genügen.“

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