Krisen als Chance

Seit Monaten schon befinden wir uns alle in einer nie da gewesenen Situation. Während ein großer Teil der Bevölkerung in ihren Ängsten gefangen ist, so gibt es zahlreiche Menschen, die mehr oder weniger gelassen bleiben. Warum reagieren Menschen so unterschiedlich?

Zappelino im Gespräch mit der psychologischen Beraterin aus Heilbronn, Nicole Winkler.

An was liegt es, dass Menschen ganz unterschiedlich mit der aktuellen Situation zurechtkommen??
Zum einen liegt es natürlich daran, wieviele Erfahrungen wir bisher im Leben gesammelt haben und wie sehr wir durch diese gelernt haben, besser mit Krisen umzugehen. Denn jede Erfahrung ist prägend und bietet eine Chance, daran zu wachsen. Hier spielt natürlich ebenfalls unsere Erziehung, unsere Sozialisation sowie unsere Vergangenheit eine Rolle. In der aktuellen Situation fühlen sich vor allem die älteren Menschen in den Pflegeheimen sofort an das Kriegstrauma mit all dem Schrecken und den damit verbundenen Ängsten erinnert. Und auch wir Kriegsenkel tragen diese Zellerinnerungen in uns, die jetzt in dieser Zeit, beispielsweise durch Hamsterkäufe, reaktiviert werden und das, obwohl wir niemals eine Zeit der Entbehrung wie nach einem Kriegsgeschehen erlebt haben. Je belastender unsere Zellinformation ist, die wir bei unserer Geburt mitbringen, umso schwerer fällt es uns, mit Krisensituationen umzugehen.

 

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Was raten Sie Menschen, die in der aktuellen Situation bei Ihnen Hilfe und Rat suchen?
Ich nehme die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten ernst und versuche nicht, diese zu verharmlosen. Unabhängig davon, ob es sich um einen Erwachsenen handelt, der Angst um seine Existenz hat oder um ein Kind, das sich fürchtet nach draußen zu gehen und sich mit dem Virus anzustecken. Dadurch, dass die ganze Welt betroffen ist und alle Medien darüber berichten, rückt zum einen das Thema Tod verstärkt in unseren Fokus und lässt sich nicht mehr wie üblich verdrängen. Zum anderen fürchten zahlreiche Menschen berechtigterweise um ihre Existenz. Daher erarbeite ich während den Supervisionen beispielsweise mit betroffenen Einzelhändlern gezielt daran, wie jeder Einzelne die Krise für sich nutzen kann und welche Möglichkeiten daraus erwachsen können. Wichtig ist vor allem, nach der ganzen Sorge und Angst, die verständlich sind, die Einsicht, dass es ist, wie es ist. Daran können wir momentan nichts ändern, daher ist es wichtig, nicht in der Schockstarre zu verweilen, sondern die Situation anzunehmen. Danach erfolgt die Erarbeitung eines Plans. Ganz wichtig dabei ist, nicht den Berg, der sich vor einem auftürmt, zu betrachten, sondern die einzelnen Abschnitte. Ähnlich einer Treppe, auf der wir Stufe um Stufe ans Ziel kommen, sollten wir uns unseren Weg zum Ziel schrittweise erarbeiten. Es ist vollkommen klar, dass wir uns in einer Krise befinden, die wir nur lösen, indem wir Schritt für Schritt voran gehen.

Grundsätzlich gilt zu sagen: Sobald eine Krise in mein Leben tritt, muss ich sie tagtäglich anschauen und vor allem auch annehmen. Um sich dann sukzessive aus der Krise rauszuschälen und zu schauen, was ich anders machen kann. Denn eine Krise entsteht nur, wenn etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wichtig ist dabei immer, in die Aktion zu kommen und sich zu bewegen. Mir erscheint es aktuell ausgesprochen erforderlich, diese Entschleunigung anzunehmen, was natürlich sehr vielen, die sich dauerhaft im Hamsterrad bewegen, nicht leicht fällt. Denn wir hatten ja keinerlei Zeit, uns auf diese Situation einzustellen, da uns dieser Lockdown mehr oder weniger von heute auf morgen überrollt hat. Hier ist es notwendig, zu entschleunigen und gleichzeitig nicht zu verharren, sondern mir eine Tagesstruktur zu erstellen, um nicht in eine Depression zu schlittern.

Ist diese Situation nicht auch für jeden sowie für die gesamte Gesellschaft eine Chance?
Mit Sicherheit! Ich bin überzeugt davon, dass eine Veränderung in Bezug auf Werte stattfinden wird. Durch den Lockdown hat sich unser gesamtes Leben komplett verändert. Wir durften in den letzten Wochen erfahren, dass das Wichtigste nicht der Konsum ist, sondern die Familie, die sozialen Kontakte und die Freundschaften. Und wir erleben eine unglaubli- che Welle der Solidarität, in der viele unentgeltlich mit ihrem Wissen und Können andere Menschen unterstützen. Alleine daran sehen wir bereits jetzt schon, dass eine Werteverschiebung stattfindet.

Infos: Nicole Schäfer, Psychologische- und Systemische Therapie
Tel: 0170/ 77 33 99 7
Burgweg 12   87629 Füssen www.nicole-schaefer.de

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